Alzey, 05.09.2025
Als Vorstandsvorsitzender von MEDI Südwest und praktizierender Allgemeinmediziner sage ich in aller Klarheit: Mit dem neuen Positionspapier des GKV-Spitzenverbands legt die Kassenseite die Axt an die ambulante Versorgung. Die Vorschläge sind nicht nur weltfremd, sie sind brandgefährlich – für die Praxen, für unsere Mitarbeitenden und vor allem für die Patientinnen und Patienten.
Die ambulante Versorgung ist schon heute chronisch unterfinanziert. Nach Jahren steigender Inflation, explodierender Energiekosten, immer teurerer IT-Anforderungen und durch jährlich fällige Tarifsteigerungen für Medizinische Fachangestellte fehlt vielen Praxen längst die betriebswirtschaftliche Basis. Wir kämpfen seit Jahren darum, unsere MFA angemessen zu bezahlen – und trotzdem liegen ihre Gehälter im Vergleich zum Krankenhaussektor deutlich zurück.
Vor diesem Hintergrund ist es ein Skandal, wenn der GKV-Spitzenverband jetzt weitere Budgetierungen fordert, die Entbudgetierungen von Haus- und Kinderärzten wieder einkassieren will und Honorare noch enger an die Einnahmen der Kassen koppeln möchte. Wer so argumentiert, ignoriert die Realität in den Praxen und nimmt deren Kollaps billigend in Kauf.
Die ambulante Versorgung ist jedoch kein beliebiger Kostenblock. Jede Praxis ist ein mittelständisches Unternehmen, das wie jeder Handwerksbetrieb jeden Euro selbst erwirtschaften muss. Nur erbrachte und ohnehin spärlich vergütete Leistungen sichern Gehälter, Mieten, Energie, IT und Geräte. Anders als Krankenkassen haben Praxen keine Milliardenrücklagen oder Steuerzuschüsse. Jede Praxis, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, schließt. So einfach ist die betriebswirtschaftliche Realität.
Streichung von Ausnahmen
Besonders fatal ist die geplante Streichung aller bislang geltenden Ausnahmen. Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsprogramme und strukturierte Behandlungsprogramme sind Investitionen, die langfristig Leben retten und Kosten sparen. Wer sie in die Budgetlogik zwingt, handelt medizinisch falsch und ökonomisch kurzsichtig.
Einnahmenprognosen statt Fakten
Hinzu kommt die Forderung, die bisherige Berechnung nach der Grundlohnrate durch eine reine Einnahmenprognose des Schätzerkreises zu ersetzen. Damit machen sich die Krankenkassen die Grundlage für Vergütungsverhandlungen selbst. Prognosen sind unsicher, manipulierbar und bieten den Praxen keinerlei Planungssicherheit. Was als „flexibel“ verkauft wird, ist in Wahrheit Willkür – und öffnet einer einseitigen Kostensteuerung Tür und Tor.
Runter mit dem Orientierungswert
Der Orientierungswert soll künftig bewusst unterhalb der Einnahmensteigerung liegen. Schon heute fehlen den Praxen Mittel, um MFA konkurrenzfähig zu bezahlen. Mit weiter gedrückten Honoraren wird es unmöglich, qualifiziertes Personal zu halten – die logische Folge ist die Aufgabe der Niederlassung.
Rücknahme der Entbudgetierung
Die Rückabwicklung der Entbudgetierung für Haus- und Kinderärzte ist zynisch und gefährlich. Gerade diese Gruppen sichern die Grundversorgung, besonders im ländlichen Raum. Solche Schritte verlängern Wartezeiten und schrecken den Nachwuchs endgültig von der Niederlassung ab.
Kein Zufall – politisches Kalkül
Dass diese Forderungen des GKV-Spitzenverbands ausgerechnet jetzt vorgelegt werden, ist kein Zufall. Am Freitag will die neue Gesundheitsministerin die Zahlen zum Milliardenloch der Krankenkassen verkünden, drei Tage später beginnen die Haushaltsberatungen. Gleichzeitig tobt ein Streit um die Krankenhausreform, weil die SPD verhindern will, dass die Union über Ausnahmegenehmigungen ineffiziente Strukturen weiter am Leben erhält.
In diesem Umfeld versucht der GKV-Spitzenverband, den Druck auf die Politik zu erhöhen – und zwar, indem er die ambulante Versorgung als vermeintlichen Kostentreiber brandmarkt. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Es sind unnötige Klinik-Eingriffe und ineffiziente Strukturen, die Milliarden verschlingen. Ambulante Praxen hingegen arbeiten hoch effizient und erbringen 95 Prozent aller Behandlungen bei nur 16 Prozent der GKV-Ausgaben.
Was stattdessen notwendig ist
- Verlässliche Refinanzierung steigender Kosten: Die ambulanten Praxen brauchen eine automatische Anpassung der Honorare an reale Kostensteigerungen – nicht an Einnahmenprognosen. Personalgehälter, Energie, Mieten, IT- und Dokumentationsaufwand steigen jedes Jahr. Es muss gesetzlich sichergestellt werden, dass diese Kosten refinanziert werden. Nur so können MFA fair bezahlt und Praxen wirtschaftlich geführt werden.
- Attraktive Arbeitsbedingungen für MFA und Nachwuchs: Die Gehälter für Medizinische Fachangestellte müssen sich am Krankenhaussektor orientieren. Das geht nur mit einer gezielten Aufwertung der ambulanten Finanzierung. Gleichzeitig braucht es Programme, die jungen Ärztinnen und Ärzten Niederlassung erleichtern: echte Förderungen für Praxisgründungen, Bürokratieabbau und verlässliche Rahmenbedingungen. Statt Abschreckung muss Niederlassung wieder eine Perspektive werden.
- Bürokratieabbau und digitale Entlastung: Praxen brauchen mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten. Dazu gehört, überflüssige Dokumentationspflichten abzuschaffen und digitale Systeme so zu gestalten, dass sie entlasten, nicht belasten. Wer Digitalisierung will, muss sie mit Praxen gestalten – und nicht von oben mit Misstrauensplattformen aufzwingen.
- Prävention stärken: Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsprogramme und DMPs sind kein Kostenfaktor, sondern eine Investition. Jeder Euro, der hier ausgegeben wird, spart später ein Vielfaches an Krankenhauskosten und Folgetherapien. Deshalb müssen diese Programme aus dem Sparlogik-Korsett herausgenommen und gezielt ausgebaut werden.
- Ehrliche Kostenanalyse: Die wahren Kostentreiber liegen nicht in den seit Jahrzehnten auf maximale Kosteneffizienz getrimmten Praxen. Die wirklichen Kostensteigerungen liegen im Krankenhaussektor und in versicherungsfremden Leistungen, die die Kassen aus den Beiträgen finanzieren. Statt die effizienteste Säule kaputtzusparen, muss Politik den Mut haben, versicherungsfremde Leistungen aus den Beiträgen herauszulösen und ineffiziente Strukturen im stationären Bereich endlich konsequent zu reformieren.
Fazit
Dieses Positionspapier ist nichts weniger als ein Generalangriff auf die ambulante Versorgung. Es zerstört die wirtschaftliche Grundlage unserer Praxen, es macht die Arbeit in der Niederlassung unattraktiv, und es gefährdet die Versorgung von Millionen Patientinnen und Patienten.
Ich sage es klar: Unter diesen Bedingungen wäre es dann betriebswirtschaftlich in vielen Fällen vernünftig, die eigene Praxis aufzugeben und, solange noch möglich, in den stationären Bereich zu wechseln. Dort gibt es wenigstens noch Gehälter, die mit der Inflation Schritt halten.
Wenn die Politik die Vorschläge des GKV-Spitzenverbands ernsthaft in Erwägung zieht, müssen wir uns alle fragen: Wer soll dann morgen noch eine Praxis führen? Mit solchen Vorschlägen treibt man die ambulante Medizin systematisch in den Ruin.

Dr. Ralf Schneider
Vorstandsvorsitzender MEDI Südwest e.V.
Allgemeinmediziner, Alzey
